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Alexander und der kleine Goldfisch

Auf einer Insel inmitten des weiten Ozeans stand eine kleine Hütte, in der ein junger Mann, namens Alexander, wohnte. Seit seiner früheren Kindheit hatte der junge Mann Freude an der Dichtkunst. Zu seinen größten Vergnügen gehörte es Shakespeares Dramen zu studieren und zu rezitieren.
Schon bald wurde er in der Öffentlichkeit bekannt. Einige Jahre ging alles gut bis er während seiner Aufführungen Schwierigkeiten in seiner Kehle und Stimmbändern bekam und seine Atmung hörbar wurde. Er suchte den Rat von Ärzten und Stimmbildnern. Die Behandlungen erwiesen sich jedoch als wenig wirksam und die Schwierigkeiten wurden immer größer. Zeitweise verlor er seine Stimme sogar vollständig. Der Höhepunkt kam, als er bemerkte, dass er sich fürchtete ein besonders attraktives Angebot anzunehmen. Er entschloss sich erneut seinen Arzt aufzusuchen und seinem Rat zu folgen 14 Tage vor einem Auftritt auf das Rezitieren zu verzichten.

Der Tag der großen Aufführung kam und bevor er die erste Hälfte seiner dichterischen Darbietung vollbrachte, war seine Stimme in äußerst elender Verfassung. Seine Enttäuschung war groß.

Da die bisherige Behandlung keine Erfolge brachte, fragte er nun wieder seinen Arzt: „Kann die Ursache meines Problems etwas sein, dass ich bei jenen Abenden beim Gebrauch meiner Stimme tue?“ Der Arzt überlegte einen Augenblick und antwortete: „Ja, das muss so sein“, konnte ihm jedoch nicht sagen, was es war. Alexander dachte „Ich muss es selbst herausfinden“.  

Eines Tages ging Alexander gedankenverloren zum Angeln zu seinem Lieblingsstein am Ozean. Dort angekommen, stellte er fest, dass er die Angel vergessen hatte. Er setzte sich kurz auf seinen Stein, um dort zu verschnaufen. Da sprang ein kleiner Goldfisch aus dem Wasser. Alexander ahnte nicht, dass der Goldfisch sein Leben verändern würde, als der Goldfisch plötzlich mit menschlicher Stimme sagte: „Alexander, Du hast Deinen Plan nicht erfüllt!“ Alexander fragte verdutzt, was denn sein Plan wäre. „Du solltest mich doch heute angeln, damit ich Dir Deinen Wunsch erfüllen kann, aber ohne Angel wird das nichts.“ „Ach, kleiner Goldfisch, ich habe überhaupt keinen Wunsch. Ich sitze nur hier, um nachzudenken, was die Ursache meines Problems beim Rezitieren ist.“ Der weise Goldfisch wusste die Lösung und rief: „Ich weiß, was Du brauchst! Ich mache Dir ein Geschenk! Ich schenke Dir Ausdauer.“ Alexander bedankte sich höflich und ging nach Hause.

Der Goldfisch schwamm in sein Anemonenhaus und dachte „Mein Großvater hatte recht. Der Mensch ist ein komisches Wesen: Statt nach der Erfüllung seines Wunsches zu fragen, verschwendet er seine Kraft und seine wertvolle Zeit für die Ursachenforschung. Wieso nimmt er diesen Umweg?“

In seiner Hütte angekommen, begann der junge Alexander mit seinen Untersuchungen. Zwei interessante Beobachtungen hatte er schon gemacht: Einerseits, dass das Rezitieren die Heiserkeit herbeiführt und andererseits, dass die Einschränkung des Gebrauchs der Stimme auf das gewöhnliche Sprechen die Heiserkeit verschwinden lässt. Diese Erkenntnisse bewegten ihn dazu nach dem Unterschied beim Gebrauch der Stimme zu suchen. Er stellte sich vor einen Spiegel und beobachtete jahrelang „sein Tun“ während des normalen Sprechens und während des Rezitierens. Leider konnte er nichts Fehlerhaftes oder Unnatürliches entdecken.

In dem Bewusstsein, genügend Ausdauer vom kleinen Goldfisch erhalten zu haben, begann er erneut sich im Spiegel zu beobachten. Plötzlich stellte er mit Erstaunen fest, dass er beim Rezitieren den Kopf zurückzog und den Kehlkopf herunterdrückte. Den Atem zog er so durch den Mund ein, dass ein keuchendes Geräusch entstand. Beim normalen Sprechen waren die Tendenzen nur in sehr geringem Maße vorhanden. Diese Entdeckung ermutigte ihn mit seinen Erforschungen fortzufahren. Er rezitierte wiederholt vor seinem Spiegel und fand heraus, dass seine Beschwerden immer dann ganz besonders ausgeprägt waren, wenn er ungewöhnliche Ansprüche an seine Stimme stellte. Diese Neuigkeit musste er unbedingt seinem kleinen Freund, dem Goldfisch, berichten. Er begab sich ans Wasser und rief seinen weisen Freund.

„Hallo Alexander, ich hoffe, Du hast endlich die Ursache Deines Problems gefunden!“ rief der kleine Goldfisch, als sich Alexander auf seinen Stein setzte. „Ich weiß jetzt, dass das Zurückziehen des Kopfes, das Herunterdrücken des Kehlkopfes, das Einziehen der Atemluft tatsächlich eine Überanstrengung meiner Stimme bewirkt. Ich muss jetzt nur diesen falschen Gebrauch des Selbst entweder aufhalten oder ändern.“ Indem er diese Worte wählte, bemerkte er seine Hilflosigkeit und schaute traurig auf das Wasser. Womit sollte er nun anfangen? Der Goldfisch bemerkte sofort, was er diesmal dem jungen Mann schenken musste. „Ja, ja, ich weiß, was Du brauchst. Ich schenke Dir Geduld“.

Erleichtert ging Alexander nach Hause und begann geduldig mit seinem Experiment vor dem Spiegel. Nun fand er heraus, wenn es ihm gelang zu einem gewissen Grad das Zurückziehen des Kopfes aufzuhalten, wurde das Einziehen des Atems und das Herunterdrücken des Kehlkopfes eingedämmt. Somit entdeckte er das Zusammenspiel der Mechanismen des menschlichen Organismus. Diese Erkenntnis motivierte ihn wiederum zu weiteren Experimenten.  Viele Jahre seines Lebens vergingen vor dem Spiegel. Eines Tages stellte Alexander fest, dass er seinen Kopf nach vorne und nach oben bringen musste, um die Verlängerung seiner Statur beizubehalten, die wiederum die geringste Tendenz zur Heiserkeit bewirkte.

In einer sternenklaren Nacht machte es sich der Goldfisch in seinem Anemonenhaus gemütlich und versank in einen tiefen Schlaf. Er träumte von seinem Menschenfreund Alexander und seiner neu gewonnenen Erkenntnis. Der Traum ließ ihn auch am nächsten Tag nicht mehr los und in Gedanken versunken setzte er sich auf die höchste Anemone.
Da fragte ihn der benachbarte Seestern: „Hey Goldfisch,  was ist los mit Dir, alter Freund?“ Der Goldfisch antwortete: „Ich habe heute geträumt, dass der Mensch dabei ist eine wichtige Entdeckung zu machen. Nämlich die, dass der Kopf vor der Flosse schwimmt und nicht die Flosse vor dem Kopf.“ Der Seestern bezweifelte, dass der Mensch schon so weit sei und sagte „Ach, das war doch nur ein Traum“.

Alexander experimentierte in der Zwischenzeit weiter. Mit erneuter Enttäuschung stellte er fest, dass beim Anbringen des Kopfes nach vorn und nach oben sich seine alten Tendenzen verstärkten und zu allem Übel sich noch zusätzlich die Wirbelsäule stark verkrümmte. Alexander war wieder zutiefst enttäuscht. In seiner Enttäuschung erinnerte er sich an seinen Freund, den Goldfisch, dem er seine Geduld verdankte. Neuen Mutes entschloss er sich mit seinen Experimenten fortzufahren und stellte einen zweiten Spiegel auf die gegenüberliegende Seite vor den alten Spiegel. Zu seinem Erstaunen erkannte er, dass er seinen Kopf nicht wie beabsichtigt nach vorn und nach oben, sondern in Wirklichkeit nach hinten ausrichtete. Das war für ihn der Beweis, dass er das Gegenteil von dem tat, was er zu tun glaubte. Sein Gefühl hatte ihn lange Zeit getäuscht.

Diese Entdeckung beunruhigte ihn sehr. Er musste wieder am Anfang seiner Überlegungen beginnen, nämlich der Schlussfolgerung, dass er selbst etwas tat, was zu seiner Heiserkeit führte. Er beschloss danach zu suchen, an welchem Punkt seines Tuns er sich damals geirrt hatte.

Er übte fleißig weiter und zog nun auch Gelehrte hinzu, deren Ratschlag er befolgte, den Boden mit seinen Füßen zu ergreifen. Mit Erstaunen stellte er fest, dass auch die Ratschläge der Gelehrten ihm nicht weiterhelfen konnten. Außerdem bemerkte er auch, dass ein neuer unvertrauter Anreiz am Anfang im Vergleich zum alten gewohnten Gebrauch schwach ist. „Ich muss zu meinem Freund, dem Goldfisch – vielleicht weiß er einen guten Rat“, dachte er und machte sich auf den Weg zum Ozean.

„Ich habe schon auf Dich gewartet, Alexander“, sprach der Goldfisch erfreut, als er Alexander am Ufer erblickte. „Ich habe die neue Entdeckung gemacht, dass mein bisheriger Gebrauch des Selbst nach dem Gefühl mich bis jetzt in die Irre führte. Kann man ein Gefühl wieder zuverlässig machen? Was ist dann die Lenkung? Müssen wir wirklich wie ein Hund oder eine Katze unüberlegt und instinktiv den Körper gebrauchen?“ Bei der letzten Frage erkannte er selbst, dass sein falscher Gebrauch des Selbst das Ergebnis einer Fehlsteuerung war - seine instinktive Reaktion auf den Anreiz seine Stimme zu gebrauchen. Diese Erkenntnis der Entscheidungsfähigkeit war seine Erleuchtung, auf die er jahrelang gewartet hatte. „Ich weiß es jetzt! Ich muss nur die Fehlsteuerung aufhalten, mir neue Anweisungen geben, und nicht dem Gefühl, sondern dem Denkvorgang vertrauen“. „Menschenfreund, wieso hast Du Dir diese Erkenntnis nicht von mir gewünscht?“ fragte der Goldfisch und machte einen freudigen Salto ins Wasser.

Aufgewühlt voller Freude vergaß Alexander sich von seinem Freund zu verabschieden, rannte zu seinen Spiegeln und übte fleißig weiter. Seine Begeisterung erlosch, als er bemerkte, dass es ihm zwar gut gelang, seine Vernunft anzuwenden, aber nur bis zum Punkt des Projizierens der Anweisung. Sein Plan schien durch seine alten Gewohnheitsmuster nicht zu funktionieren. Seine instinktive Lenkung war den bewussten Anweisungen weit überlegen. „Ich muss mich weigern irgendetwas unmittelbar als Reaktion auf etwas zu tun“, dachte er. Er beschloss sich die neuen Anweisungen immer wieder zu geben, ohne sie zu tun. Viele Monate verflogen, da erkannte er, dass er sich nacheinander und gleichzeitig mehrere Anweisungen geben müsste, um dauerhaft einen neuen Weg zur Erreichung seiner Ziele bestreiten zu können. Auf diese Weise wurde der Grundstein einer neuen Methode zum bewussten Gebrauch des Selbst gelegt.

Jahre vergingen und eines Tages, als der alte Goldfisch seinen Enkel durch die Geheimnisse des Ozeans führte, fragte der Enkel seinen Großvater: „Opi, Du bist doch der größte Menschenkenner. Was ist wohl wahr? Der Papa sagt, dass der Mensch ein Spätzünder ist, weil er längst Selbstverständliches als Neues entdeckt, und Mama sagt, dass der Mensch ein weises Wesen ist – mit einem großen Entdeckergeist, weil er sogar im Selbstverständlichen Neues finden kann“.

Was denkst du, welche Antwort hat der Goldfisch seinem Enkel gegeben?




 
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